Einführung in die Ausstellung Herbert Naumann,
4. Oktober 2010, Ausstellungshaus Aktives Museum Spiegelgasse
„Aus dem Bericht vom Juli 1945 über die Beerdigung der KZ-Häftlinge in Dörschnitz
Ich zitiere:
Dort ein sogenanntes Massengrab mit 11 erschossenen Häftlingen. Unter Anweisung des Totengräbers, der vor reichlich 2 Monaten, die von den Wehrmannschaften zurückgelassenen Toten begrub, barg man auch diese aus der ihnen unwürdigen Ruhestätte. Auch ihnen hatte man ihre Taschen, Säckchen und sonstige Behälter, in denen sie Kleinigkeiten wie Kamm, Seife, Zahnbürste, Messer, Löffel, Kontrollkarten, Lagergeld usw. mit sich führten, in ihr Grab hineingegeben. Sogar eine kleine Puppe, selbstgefertigt, kam zum Vorschein. Sie mochte wohl für das zu erwartende Kind einer Gefangenen gedacht gewesen sein, die sich mit unter diesen Ermordeten befand. Gerade diese Frau muss wohl sehr an ihrem Leben gehangen haben, denn nach Aussagen des Totengräbers musste auf sie nicht weniger als 3 mal geschossen werden, ehe festgestellt werden konnte, dass sie endgültig tot ist. Es wurde auf sie, wie auf die anderen, die nicht mehr weiter konnten, ein Schuss abgegeben, der sie aber nicht tödlich traf. Feldarbeiter baten einen SS-Mann, diese Frau, die offenbar ungeheure Schmerzen litt, doch richtig zu erschießen. Er tat dies auch, leider Gottes mit dem Erfolg, dass sie am nächsten Tag, als man sie zu den übrigen Erschossenen legen wollte, immer noch Lebenszeichen von sich gab.Ein herbei gerufener Volkssturmmann erlöste dann endlich diesen bedauernswerten Menschen von ihren
großen Schmerzen.
Zunächst aber möchte ich Sie auch ganz herzlich begrüßen.
Gleichzeitig möchte ich mich bei all den Verantwortlichen dafür bedanken, das ich meine fotografische Arbeit Todesmarsch hier, im Aktiven Museum Spiegelgasse in Wiesbaden, zeigen darf. Die divergierenden Annahmen, über die genaue Anzahl der Menschen, die auf Todesmärsche getrieben wurden, haben mich nie interessiert und auch nicht, ob es Himmler oder doch eher Hitler war der den Befehl für die Todesmärsche gab. Angesichts solcher Verbrechen, wie die Tötung dieser Frau, macht es für mich überhaupt keinen Sinn darüber zu streiten, ob – wie von mir beschrieben – 758 000 oder wie andere sagen, 728 000 Menschen vergleichbares Leid erfuhren und viel von ihnen genau so getötet wurden. Bereits dieses Verbrechen und auch, wie grausam, verroht und primitiv es im eingangs zitierten Bericht beschrieben wird, ist für mich unfassbar und zeigt mir, wie sehr die Deutschen, weil ethisch moralisch so sehr verroht, an diesen Verbrechen beteiligt waren.
Da kommt niemand auf die Idee, um Leid zu lindern, diese Frau vielleicht ärztlich versorgen zu lassen. Nein: Erschossen werden soll sie – aber bitte richtig. Und vielleicht nur, weil mir diese Diskurse nie wichtig waren, sondern mich immer nur der Mensch, sein Denken und Handeln interessiert, war ich erst fähig, dieses Projekt so machen zu wollen.
Um das Projekt nun vielleicht besser verstehen zu können, möchte ich Ihnen gern etwas zu meiner Fotografie und darüber erzählen, wie ich zu diesem Projekt gefunden habe.
2012 und 2013 arbeitete ich an dem fotografischen Projekt über die 136 Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Während dieser Arbeit erfuhr ich, dass die in Leipzig zusammengetriebenen über 15.000 KZ-Häftlinge in verschiedenen Gruppen und in unterschiedlicher Richtung auf Todesmärsche gezwungen worden waren – nicht, um mit ihnen irgendwann einmal irgendwo anzukommen, sondern um sie zu töten.
Ich erfuhr auch von dem Todesmarsch einer 2.400 Häftlinge umfassenden Gruppe, die am 13. April 1945, von der SS bewacht, das Außenlager der Erla Werke in Leipzig in Richtung Theresienstadt verlassen hat und, dass die nur 250 Überlebenden dieses Marsches nach 500 Km und vier Wochen später, nämlich am 09. Mai 1945 von Soldaten der russischen Armee in Fojtovice – Tschechien – befreit wurden.
Es gelang mir, diesen Todesmarsch in seinem Verlauf, seiner Länge und seiner Dauer exakt zu rekonstruieren: Jeden der 27 Tage und jeden der über 500 Kilometer. Und das gab mir den Impuls. Um vielleicht doch noch etwas erfahren oder Antworten bekommen zu können, machte ich mich am 11.April 2017 auf, fuhr nach Leipzig und folgte ab dem 13. April dem Weg dieses ehemaligen Todesmarsches.
Während meines Marsches hielt ich mich an den genauen Wegverlauf und an die, von dem Überlebenden Andre Raimbault in seinem Tagebuch beschriebene Tagesstruktur. Dort, wo es möglich war, übernachtete ich in den auch damaligen Übernachtungsorten in Pensionen und wo es nichts gab, schlief ich in meinen Biwaksack gehüllt dort, wo seinerzeit auch die Häftlinge übernachteten.
Jeden Morgen las ich alle, für diesen Tag von mir recherchierten Informationen zu dieser Geschichte, laut und wiederholend vor. Ich versuchte mich damit auf die seinerzeitigen Ereignisse zu fokussieren und gleichzeitig meinen logisch-reflektierenden Verstand auszuschalten. So vorbereitet machte ich mich dann auf meinen Weg. Und ich habe aufmerksam auf das „geschaut“ und dem „zugehört“, was mir auf diesem Weg von dieser Geschichte „gezeigt und erzählt wurde“. Ich habe
es zu erfassen und zu visualisieren versucht. Die so sich entwickelten inneren Bilder habe ich dann jeweils nur noch auf die Funktionen meines Fotoapparates übertragen.
Ich habe alle Aufnahmen während der Zeit vom 12. April bis zum 09. Mai 2017 auf meinem Weg von Leipzig nach Fojtovice mit einer analogen Kamera als Doppelbelichtungen auf Schwarzweiß- Negativfilme gemacht. Doppelbelichtungen sind zwei aufeinander folgende Aufnahmen auf einem Negativ. Die so sich überlagernde Bilder, kommunizieren dann miteinander; sie zeigen etwas Neues, was es so nicht gab und was es so auch nie geben wird; sie sind mehrdeutig und als Aufnahmen nicht zu reproduzieren.
Wie also unschwer zu erkennen ist, geht es mir bei meiner Fotografie nicht um das Wiederzuerkennende. Mir geht es um das – im doppelten Wortsinne zu verstehende – selbsterkennende Wahrnehmen.
Nach jahrzehntelangem Studium der Theorie der Fotografie – ihrem Wesen und ihrem Sinn – bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass, wenn im Bild nicht sprachlich eindeutig Definiertes zu erkennen ist und dann auch noch undeutlich Mehrdeutiges hinzukommt, das Denken erst beginnt und – wie der Medienphilosoph Vilém Flusser es formulierte – der Freiheit einen Raum eröffnet.
Ich verstehe meine Bilder als Einladung an den Betrachter, sie mit seinen ganz persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Entdeckungen zu durchdringen, sie sich anzueignen und einen Dialog zwischen diesen Bildern und den eigenen inneren Bildern, Vorstellungen und Fantasien zu entfesseln.
Und obwohl diese Bilder ja nur meine ganz persönliche Sicht auf diese Geschichte zeigen, hege ich die Hoffnung, dass Sie mit dem Text und meinen Bildern, aber über den Text und die Bilder hinaus, selbst-erkennen und empfinden können, was während dieses Todesmarsches alles geschah.
Dafür wünsche ich Ihnen Kraft und Erfolg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“
Kommentare von Herbert Naumann