Begrüßung zur analogen Ausstellung,
4. Oktober 2010, Ausstellungshaus Aktives Museum Spiegelgasse

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, lieber Herr Naumann.

Ich begrüße Sie herzlich zu Eröffnung unserer Ausstellung „TODESMARSCH von Leipzig nach Fojtovice – 1945“ von Herbert Naumann.

Mein Name ist Georg Habs. Ich bin Sprecher der Ausstellungsgruppe des Aktiven Museums Spiegelgasse.
Zum geplanten Ablauf dieser Veranstaltung:
Zunächst werde ich darstellen, warum wir hier genau diese und keine andere Ausstellung zeigen.
Danach wird Ihnen Herbert Naumann, dem wir diese Darstellung verdanken, schildern, wie er diese Herausforderung entdeckt und sich zu eigen gemacht hat – mit akribischen Recherchen, indem er den Zickzacklinien eines Todesmarsches im wahrsten Sinne des Wortes nachgegangen ist, an Schauplätzen grausamer Taten und entsetzlich Leids ausgeharrt hat, die heute nichts als banale Alltäglichkeit aufweisen.
Er wird eingehend erläutern, wie er eine Bildsprache gefunden hat, die dieses Unbehagen fassbar macht, eine Bildsprache, die Betrachterinnen nicht mit fertigen Botschaften abspeist, sondern zu eigenem Nachdenken und Nachfühlen anregt.

Meine Damen und Herren, Diese Ausstellung ist in meinen Augen einzigartig – einzigartig vielschichtig, einzigartig in ihrer Aktualität.

Zum Thema „Todesmärsche“ liegt eine Reihe wissenschaftlicher Bücher und Aufsätze vor. Die meisten von ihnen widmen sich dem Großen und Ganzen, nehmen die Gesamtheit aller „Todesmärsche“ in den Blick und versuchen sie historisch einzuordnen. Dabei befassen sie sich beispielsweise mit der Frage, wie viele Menschen den „Todesmärschen“ zum Opfer gefallen sind und gelangen zu unterschiedlichen Schätzungen. Die konkreten Zahlenangaben schwanken – wahrscheinlich kam 1944/1945 mindestens ein Drittel der registrierten über 700.000 KZ-Häftlingen ums Leben. Am Streit um den „richtigen“ Zahlenwert kann und will ich mich nicht beteiligen. Einen solchen Zahlenwert kann ich nicht betrauern. Mein Großes und Ganzes begnügt sich mit der Feststellung: Es waren mehr Opfer, als ich zu fassen vermag – die Dimension der Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes und unter aktiver Beteiligung seiner Bevölkerungsmehrheit begangen wurden, war ungeheuer.

Ein zweites Beispiel: Es entspricht einem legitimen Erkenntnisinteresse, dass Historikerinnen zu klären versuchen, welche politischen Absichten mit der Durchführung der „Todesmärsche“ verfolgt wurden und wie die in Auflösung befindlichen NS-Befehlsketten sich spannten, verhakten und zerbrachen.
Was das Quellenstudium in diesen Angelegenheiten zu Tage befördert hat, ist amorph. Es leistet keinen wesentlichen Beitrag zu einer geschichtsklugen Zukunftsgestaltung. Warum?
Geschichte wiederholt sich nie Eins zu Eins. Die Absichten und Befehlsketten des Jahres 1945 waren Ausdruck eines spezifischen, gescheiteren Unrechtsregimes. Spätere Unrechtsregime entfalteten sich und scheiterten unter anderen, zeittypischen Bedingungen. Dasselbe gilt für Unrechtsregime der Gegenwart. Solche Unterschiede festzuhalten, ist wichtig.

Noch wichtiger ist aus meiner Sicht das, was Unrechtsregime aller Art und aller Zeiten eint:
Zu Feinden erklärte Menschen werden gedemütigt, entrechtet, verfolgt, gequält, gefoltert, ermordet – damals wie heute.
Diese Opfer sind allesamt Menschen, Individuen, die Besseres und Anderes verdient hätten – die Wahrung ihrer Menschenwürde.

Mein Fazit:
Wer historische Ereignisse nur von hoher Warte beurteilt, begibt sich in einen unüberbrückbaren Abstand zum Gegenstand seiner Betrachtung. Um Geschichtsinteresse zu wecken, bedarf es einer Annäherung auf Augenhöhe, bedarf
es einer Vermittlung, die das menschliche Maß des Einfühlungsvormögens respektiert.

Genau dies leistet diese Ausstellung von Herbert Naumann. Sie sieht nicht von der hohen Warte der Abstraktion auf alle Todesmärsche herab. Sie befasst sich in exemplarischer Weise mit einen einzelnen Todesmarsch, zeichnet seine
einzelnen Etappen von Anfang bis Ende genau nach.

Die Wände unserer Ausstellungsräume hat Herbert Naumann mit Ablichtungen historischer Dokumente bestückt. Darüber hängen Bilderrahmen. In den meisten von ihnen sieht man unten einen knappen Text, in allen fotografische Arbeiten. Diese drei Ebenen der Darstellung bringen Betrachterinnen den Todesmarsch von 1945 nahe – Tag für Tag, Etappe für Etappe, Ort für Ort.

Die Texte speisen sich aus Notizen und Aufzeichnung von Zeitzeugen – verschleppten französischen KZ-Häftlingen. In nüchterner Sprache sind die erschütternden Details wie in einem Tagebuch festgehalten. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig. Geschildert wird beispielsweise wie erbarmungslos Mitglieder der SS-Wachmannschaften und des Volkssturms von ihrer Rest-Macht Gebrauch gemacht haben, wie die verschleppten KZ-Häftlinge mit und gegen einander um ihr Überleben kämpften, wie Fluchtversuche endeten – mit dem Erfolg des Entkommens oder dem Tod. Sich der Dichte und Eindrücklichkeit dieser Texte zu entziehen, ist schwer.

Eine ganz besondere Bewandtnis hat es mit den fotografischen Arbeiten, die Herbert Naumann diesen Texten zur Seite und entgegen stellt. Herbert Nauman ist dem Leidensweg der NS-Opfer vom 13. April bis zum 9. Mai 2017 in einer gefolgt – im Zeitmaß ihrer Verschleppung und Vernichtung, in einer Wanderung bis zur Erschöpfung. Die Ansicht der Orte und Plätze, auf die er dabei gestoßen ist, hat er mit einer analogen Kleinbildkamera festgehalten – in Form von Doppelbelichtungen auf Schwarzweiß-Negativfilmen. Herbert Naumann hat sich mit der Wahl dieses Verfahrens bewusst einem Prozess ungesteuerter Bildwerdung ausgeliefert, der keinen Versuch einer perfekten Inszenierung zulässt. Was auf den Doppelbelichtungen festgehalten ist, enthüllte sich ihm erst im Nachhinein.

Die Abzüge dieser Negative geben keine einfachen Ortsansichten wieder. Jedes einzelne Motiv bannt zwei verrückte Zeitebenen einer gegenwärtigen Landschaft aufs Bild. Die so erreichte Auflösung der gewohnten zeitlichen Ordnung, die so erreichte Durchdringung von Jetzt und Nachher verstört. Sie lädt Betrachterinnen dieser Kunstwerke dazu ein, ein zweites Mal genau hinzusehen und sich selbst einen Reim auf das Dargebotene zu machen. Herbert Naumann greift dem Ergebnis dieses erneuten Hinsehens und Nachdenken nicht vor.

Ich finde seine fotografischen Arbeiten erschreckend ästhetisch. Würde man sie aus ihrem Kontext reißen, hätten sie als reine Kunst einen hohen Eigenwert. Aber Herbert Naumann löst sie nicht aus ihrem Kontext, sondern verklammert sie taggenau mit der Abfolge des von Menschen anderen Menschen zugefügten Leids. Durch die exakte Zuordnung seiner fotografischen Arbeiten zu den einstigen Tatzeiten und –orten des „Todesmarsches“ verhindert er eine Beliebigkeit der
Betrachtung – und das ist gut so.

Aufklärung tilgt weiße Flecken des Wissens – dies leisten die Texte.
Erinnerungsarbeit versucht uns historische Vorgänge auf eine Weise nahe bringen, der man sich nicht einfach mit einem Schulterzucken entziehen kann – dies leistet die Text-Bild-Fusion.
Für Menschen unter 40 ist das NS-Regime graue Vorzeit. Der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus schreibt: „Der Mensch ist nicht ganz und gar schuldig, denn er hat die Geschichte nicht begonnen und auch nicht ganz und gar unschuldig, denn er schreibt sie fort.“
Mit anderen Worten: Niemand ist verpflichtet, sich eine „ererbte“ Schuld zu „eigen“ zu machen. Aber wir alle tragen Verantwortung für das, was kommt. Wir alle machen Tag für Tag Geschichte – mit dem, was wir tun oder unterlassen.

Die Ausstellung von Herbert Naumann wird dieser Einsicht gerecht. Sie ringt dem Vergangenen aktuelle Bedeutung ab. Sie transportiert den Appell: Jede und Jeder sollte geschichtskluges Wissen um in der Vergangenheit zugefügtes Unrecht
und Leid nutzen, um der Zufügung von neuem Unrecht und Leid mit all seinen Möglichkeiten rechtzeitig Einhalt zu gebieten.
Bevor ich Herrn Naumann nun selbst ans Redepult bitte, eine Kurzvorstellung:
Herbert Naumann ist 1950 geboren, verheiratet und lebt mit seiner Frau in Münsterland.
Nach einer handwerklichen Ausbildung und seinem Studium hat mehr als 30 Jahre lang als Bewährungshelfer und als Pädagoge gearbeitet – zuletzt bis 2008 als Heimleiter in der Kinder- und Jugendhilfe. Anschließend hat er sich verstärkt
der professionellen Fotografie gewidmet – die Ergebnisse seiner theoretischen Reflektion und praktischen Arbeit sind höchst beachtlich.


Vielen Dank!
Lieber Herr Naumann – Sie haben das Wort!“