Nr. 5 vom 31. Januar 2021

Das Grauen vor Augen

Dekanat Wiesbaden: Digitale Fotoschau nimmt Besucher mit auf Todesmarsch der KZ-Häftlinge

WIESBADEN. Es fällt schwer hinzusehen: Die Fotos von Herbert Naumann zeigen einen der Todesmärsche der KZ-Häftlinge in Leipzig. Für seine Fotos ist er die Strecke selbst nachgegangen.

VON ANJA BAUMGART-PIETSCH

Mit den Bildern stimmt etwas nicht. Schwarzweißfotos von kargen Landschaften, Wegen, Straßen, Häusern, die eine unheimliche Ausstrahlung besitzen. Tritt man näher, sieht man, dass sich in jedem Bild mehrere Motive überlagern. Das Papier, auf das die Bilder gedruckt sind, hat eine Struktur fast wie eine menschliche Haut. Und dass die Glasrahmen nicht entspiegelt sind, sondern man schemenhaft noch sein eigenes Spiegelbild wahrnehmen kann, ist ebenfalls kein Zufall.
Die Bilder, die der Fotograf Herbert Naumann aufgenommen hat, geben einem nahezu unerträglichen Thema visuellen Ausdruck. Er ist einem der Todesmärsche gefolgt, die die Nationalsozialisten zum Ende des Krieges den KZ-Häftlingen als letzte Demütigung und Vernichtungsmaßnahme zumuteten.
Im Dezember 1944 waren noch rund 714 000 Häftlinge in den Konzentrationslagern registriert. Als die Front näher rückte, wurden sie geräumt – in mörderischen Gewaltmärschen ins Nirgendwo. Einer dieser Todesmärsche begann am 13. April 1945 mit 2400 Häftlingen des Außenlagers der „Erla-Werke“ in Leipzig. Sie wurden wochenlang nach Nordböhmen in Richtung Theresienstadt getrieben. Es überlebten nur 250 Menschen, die am 9. Mai 1945 von der Roten Armee in Fojtovice befreit wurden.
Herbert Naumann hat es auf sich genommen, diese 500 Kilometer nachzugehen – nur mit einer analogen Kleinbildkamera im Gepäck.
Der Fotograf hatte sich bereits in mehreren Projekten mit der fotografischen Dokumentation der 136 Außenlager des KZ Buchenwald befasst. Als er sich näher mit den Todesmärschen beschäftigte und Tagebuchaufzeichnungen einiger Überlebender fand, fasste er den Entschluss, diese Strecke selbst zu laufen und die in den Tagebüchern beschriebene Tagesstruktur nachzuvollziehen.
„Jeden Morgen las ich alle für diesen Tag von mir recherchierten Informationen zu dieser Geschichte laut vor. Ich versuchte, mich damit auf die seinerzeitigen Ereignisse zu fokussieren und gleichzeitig meinen logisch-reflektierenden Verstand auszuschalten. So vorbereitet, machte ich mich dann auf meinen Weg. Die so sich entwickelnden inneren Bilder habe ich dann jeweils nur noch auf die Funktionen meines Fotoapparates übertragen“, sagte Naumann bei der Eröffnung seiner Ausstellung, die zum ersten Mal in Wiesbaden zu sehen ist. Aufgrund der Corona-Pandemie ist das Museum mittlerweile geschlossen. Die Fotos werden jedoch in einer digitalen Ausstellung präsentiert.
Das Aktive Museum Spiegelgasse ist für ihn ein perfekter Ort, um diese erschütternden Fotos und Tagebuchaufzeichnungen zu präsentieren. Hier wird auf vielfältige Weise Bildungs- und Erinnerungsarbeit an das jüdische Leben geleistet – vorwiegend mit Themen aus Wiesbaden, aber auch mit Wanderausstellungen wie dieser, die über die hessische Landeshauptstadt hinausweisen.
Dass Naumann seine Fotos hier zeigen kann, ist für Kurator Georg Habs einzigartig. „Wer historische Ereignisse nur von hoher Warte beurteilt, begibt sich in einen unüberbrückbaren Abstand zum Gegenstand seiner Betrachtung. Um Geschichtsinteresse zu wecken, bedarf es einer Annäherung auf Augenhöhe.“ Das leisten die Fotografien für Habs „erschreckend ästhetisch“: „Würde man sie aus ihrem Kontext reißen, hätten sie als reine Kunst einen hohen Eigenwert. “Aber in Verbindung mit den Tagebuchnotizen, durch die die Betrachter erfahren, was sich 1945 an dieser Stelle ereignete, transportieren sie das nackte Grauen.
Ein Gefangener versucht zu fliehen. „Er wird von der SS unter Feuer genommen, die sich einen Spaß daraus macht, ihn als Zielscheibe zu benutzen. Er fällt, steht wieder auf, fällt wieder und ein SS-Mann bringt ihn mit einer Kugel in den Kopf um, wie einen Hund.“
Kaum vorstellbare Grausamkeiten, von Menschen anderen Menschen angetan, haben sich in Wäldern und auf Feldern ereignet. Naumann hat durch seine besondere Fototechnik das Grauen einfangen können. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, dass die Betrachtenden, „mit dem Text und meinen Bildern, aber über den Text und die Bilder hinaus, selbst erkennen und empfinden können, was während dieses Todesmarsches geschah.“